«Alles ist mit Schmerz verbunden»

Text und Bild: Larissa Gassmann, Aargauer Zeitung, 20. Januar 2021 

Alina Schärer absolviert derzeit eine Ausbildung zur professionellen Tänzerin. Der Weg zum Traum ist von Schmerzen und Verzicht geprägt. Trotzdem kann sich die aus Reitnau stammende 18-Jährige kaum ein anderes Leben vorstellen.

Alina Schärer steht im Zürcher Tanzwerk 101 auf ihren Zehenspitzen, jeder noch so kleine Muskel ist bis aufs Äusserte angespannt. Sorgsam und grazil reckt sie ihre Fingerspitze in Richtung Decke, verharrt regungslos und ohne zu Zittern sekundenlang in ihrer Pose. Schärer ist schlank. Trainiert. Auch nach einem einstündigen Training kaum aus der Puste. Eigentlich habe sie keinen perfekten Körper, sagt die 18-Jährige.

Wenn sie sich langsam in Richtung Boden verneigt, dann zeichnet sich jeder Wirbel unter ihrem schwarzen Top ab. Fein säuberlich wie auf einer Perlenkette aufgereiht. Erst ganz gerade. Und dann auf einmal nicht mehr. Schärer leidet unter Skoliose, einer seitlichen Verkrümmung der Wirbelsäule. Ballett, das sei Gift für sie. Es mache ihren Körper kaputt, heisst es erst von Seiten der Ärzte. Nur dank Ballett wird der Schmerz irgendwann vergehen, sagen andere. Schärer hängt an ihrem Traum, verdrängt die Gedanken an eine Operation. «Wenn ich es jetzt operieren lasse, dann kann ich vielleicht nie mehr tanzen», sagt sie.

Fünf, sechs, sieben, acht. Arabesque. Schärer ist im Tanzstudio umgeben von Tanzprofis und Laien. Sie steht auf ihrem linken Bein, das rechte befindet sich nach hinten gestreckt in der Luft. Bei jeder Übung hebt Schärer ihr Bein ein bisschen höher als alle anderen. Jeder einzelne Schritt wirkt bei ihr ausgereifter. Mehr Balance, mehr Kraft, mehr Stabilität.

In der Primarschule in Reitnau wird Schärer spöttisch «Alina Primaballerina» genannt. Ihre Leidenschaft kommt nicht überall gut an. Schärer ignoriert die Kritik. «Mittlerweile finden alle cool, was ich mache», sagt sie. Und doch. Wenn ihre Kolleginnen abmachen, muss sie ins Training. Etwas hat in ihrer Jugend gefehlt. «Natürlich. Die Zeit, die einem genommen wird», sagt sie.

Schon im Kindergarten schmiedet sie mit ihrer Freundin Pläne, wie sie ihre Eltern am besten zu Tanzstunden überreden kann. «Trotzdem hatte ich nicht schon als kleines Mädchen den Traum, professionelle Tänzerin zu werden», sagt sie. Im Zofinger Ballettstudio Linder nimmt sie im Alter von sechs Jahren ihre ersten Stunden. Wie gut sie tatsächlich ist, fällt ihr selbst nicht auf. Erst als sie ihr erstes Handy geschenkt bekommt, fängt sie an, sich im Internet mit professionellen Tänzerinnen zu vergleichen. Als sie zwölf Jahre alt ist, schickt ihre Lehrerin sie zur Danse-Suisse-Prüfung nach Zürich. Schärer erhält eine A-Bewertung und wird in die Sportschule Zürich aufgenommen. «Erst da habe ich gemerkt, dass ich Talent habe», sagt sie.

Fünf, sechs, sieben, acht. Demi-Plié. Schärer schlägt ihre Fersen aneinander, geht leicht in die Knie. Wenn die Lehrerin im Tanzwerk 101 die Choreografie vorführt, dann bewegen sich die meisten anwesenden Ballerinas schon mit. Nur Schärer steht still da. Nach all den Jahren kennt sie jede Pose auswendig. Einzig mit Handzeichen repetiert sie die Bewegungsabfolgen. «Um Energie zu sparen», sagt sie.

Die Danse-Suisse-Prüfung muss sie seither jährlich wiederholen. Zur Aufnahmeprüfung gehört eine Ballettstunde vor einer Jury, ein Solo, der Besuch einer Modern-Dance-Stunde, ein medizinischer Check und ein Gespräch. Nach der erstmals bestandenen Prüfung meldet Schärer sich zum Vortanzen im Opernhaus Zürich an. Einmal mehr überzeugt sie. Sie wird in die dazugehörige Ballettschule aufgenommen – trotz aller Selbstzweifel. «Wenn ich sehe, dass andere viel besser sind als ich, dann fühle ich mich schnell eingeschüchtert», sagt sie. Sollte sie es irgendwann in eine Kompanie schaffen, dann geht der Konkurrenzkampf erst so richtig los.

Noch fühlt sich das Tanzen leicht an. Es hilft ihr, sämtliche Gefühle herauszulassen: «Besonders die, die man nicht in Worte fassen kann.» Als sie 13 Jahre alt ist, stirbt ihr zwei Jahre älterer Bruder an einem Hirntumor. Schärer schliesst sich ein, tanzt den Schmerz allein weg. «Ich habe meine Trauer nie bei anderen gezeigt», sagt sie.

Fünf, sechs, sieben, acht. Relevé. Schärer löst ihre Hände langsam von der Barre. Sie steht jetzt wieder auf ihren Zehenspitzen. Diese krümmen sich in ihren rosafarbenen Ballettschuhen. Seit Jahren hat sie einen Hallux valgus, eine Fehlstellung des Grundgelenkes der grossen Zehe. Sie verzieht keine Miene.

«Alles ist mit Schmerz verbunden», sagt Schärer. Eines habe sie von ihren Lehrerinnen immer wieder gehört: «Solange es nicht wehtut, machst du es nicht richtig.» Früher habe sie kaum auf ihre Figur oder ihre Ernährung geachtet. Dies habe erst mit der Zeit angefangen. «Im Ballett wird man schon sehr früh auf seinen Körper angesprochen», sagt Schärer. Auch in der Schule hört sie Witze, sobald sie ein Stück Schokolade auspackt. Als Tänzerin dürfe sie sich das doch nicht leisten, heisst es dann. Sprüche dieser Art nerven sie, sagt Schärer. Aber es beeinflusse das Tanzen nicht.

Trotzdem. Abstand braucht sie. Wenn sie nicht tanzt, zeichnet sie. Spielt Gitarre oder Klavier. Ohne Kunst kann sie nicht. Sollte es mit dem Tanzen irgendwann nicht mehr klappen, will sie es mit einem anderen kreativen Beruf versuchen. Derzeit absolviert Schärer das zweite von vier Schuljahren in Zürich an der United School of Sports. An dieser wird der Sport mit einer kaufmännischen Grundausbildung kombiniert. 20 Stunden pro Woche trainiert Schärer. Zuvor war sie ein Jahr an der Modeco, eine Mode- und Gestaltungsschule. Ihre Eltern unterstützen sie auf ihrem Weg. Kostengünstig ist dieser nicht. «Sie haben mir schon ab und zu gesagt, dass es ihnen lieber wäre, wenn ich eine normale Lehre machen würde», sagt Schärer.

Fünf, sechs, sieben, acht. Grand jeté. In Vierergruppen absolvieren die Teilnehmerinnen der Ballettstunde verschiedene Sprünge. Schärer springt in die Luft, landet mit einer federnden Bewegung wieder auf dem Boden und rennt zurück. Immer wieder startete sie als Erste. Schüchternheit weicht der Selbstverständlichkeit, über die nur Profis verfügen.

Seit ihrem zwölften Lebensjahr verbringt Schärer den grössten Teil ihrer Zeit in Zürich, wo sie nach der Primarschule die Sportschule Zürich abschliesst. Der Abnabelungsprozess ist allerdings ein schmerzhafter. «Ziemlich schlimm» sei das erste Jahr gewesen. Nur am Wochenende konnte sie nach Hause zu ihrer Familie, unter der Woche wohnte sie bei ihrer Tante. Durch ihre Schüchternheit sei es ihr schwergefallen, Freundschaften zu schliessen.

Und doch: Die Qual lohnt sich. Der Erfolg setzt irgendwann ein. 2018 darf sie als Babyschwan in Schwanensee auftreten. Den Klassiker inszeniert hat der deutsche Choreograf und Regisseur Christian Spuck. Im laufenden Jahr wird sie in «Die lustige Witwe» von Bruno Oertli auf der Operettenbühne Hombrechtikon auftreten. Mittlerweile tanzt Schärer auch Contemporary, Hip-Hop oder Modern Dance. Irgendwann einmal will sie ins Ausland. Irgendwann einmal muss sie ins Ausland. Eine Karriere als Tänzerin ist in der Schweiz kaum realisierbar.

Fünf, sechs, sieben, acht. Glissé. Ein letztes Mal wirbeln die Tänzerinnen durch die Halle in Zürich. Mehrere von ihnen tragen einen Dutt. Nur wenige haben ihre Haare offen. Gelock und glatt. Schwarz, braun, blond. Aber vor allem lang. Einmal mehr sticht Schärer hervor. Ihre schulterlangen Haare hat sie vor einem Jahr abgeschnitten. Das Blond ist vor wenigen Wochen schwarzer Farbe gewichen.

Es habe sie immer genervt, einen Dutt zu tragen. Ihre Haare hätten darunter gelitten, seien kaputt und stumpf geworden. «Seitdem ich meine Haare so habe, fühle ich mich freier», sagt sie. Bis jetzt kam die optische Veränderung gut an. Weil sie seit dieser Woche wieder im Opernhaus trainiert, hat sie zum ersten Mal Bammel. «Ich hoffe, dass sie bis dann wieder länger sind», sagt sie.

Der Schönheitsdruck in der Branche sei hart. Bei den Vorführungen dürfen sich die Tänzerinnen optisch kaum unterscheiden. Unzählige Punkte müssen erfüllt werden. Ehrgeiz allein reicht an der Spitze längst nicht mehr aus. «Früher wollte ich das typische und perfekte Ballettmädchen sein», sagt Schärer. «Aber nun steche ich aus der Menge heraus.»

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