Text: Larissa Gassmann, Aargauer Zeitung, 26. Juni 2019
Die 17-jährige 400-Meter-Läuferin Giulia Senn will als amtierende Schweizer Meisterin an der diesjährigen U20-EM überzeugen. An den Einkampfmeisterschaften in Wohlen hat sie die Limite für die EM deutlich unterboten. Die Sprinterin peilt den Einzug in den Halbfinal als EM-Ziel an.
Manche Athletinnen und Athleten wissen minutenlang über ihre Sportart zu referieren. Bei der Aargauer 400-Meter-Läuferin Giulia Senn sieht das etwas anders aus. Um die Liebe zu ihrer Lieblingsdisziplin zu beschreiben, braucht sie keine grossen Worte. Auf die nationalen und internationalen Laufbahnen verschlägt es sie vor allem «weil ich halt einfach gerne schnell renne».
Dass sie dazu fähig ist, hat Senn Ende Mai eindrücklich bewiesen. An den Kantonalen Einkampfmeisterschaften in Wohlen gelang ihr Ende Mai nicht nur die Bestleistung, sie unterbot mit 55,16 Sekunden auch die U20-EM-Limite (55,90) und stellte damit zugleich ihre Leistung beim Gewinn der letztjährigen Schweizer Meisterschaft in den Schatten. Somit ist Senn ein Platz an der diesjährige U20-EM im schwedischen Boras so gut wie sicher – und damit auch ihre zweite Teilnahme an einer Europameisterschaft.
Bereits im vergangenen Jahr qualifizierte sich das Mitglied des LV Wettingen-Baden für die U18-EM im ungarischen Györ. Doch damals lief es für Senn nicht wie gewünscht, früh schied sie aus dem Wettkampf aus. In diesem Jahr soll sich das nicht wiederholen, Senn peilt den Halbfinal an. Was heuer anders sein wird? «Im vergangenen Jahr habe ich mir sehr viel Druck gemacht. Diesmal probiere ich es mehr zu geniessen, lockerer an den Start zu gehen», sagt Senn.
Überhaupt ist seit Györ viel passiert in ihrem Leben. Seit Anfang Dezember trainiert sie dreimal pro Woche mit Nationaltrainer Flavio Zberg im Letzigrund. Eine grosse Chance für die 17-Jährige, die zu Beginn aber auch einer Akklimatisierungsphase bedurfte. Auch in Baden ist das Training hart, aber in Zürich ticken die Uhren bekanntlich etwas anders. Genau dieses professionelle Training, hat ihr nun aber gemäss eigener Aussage zum erfolgreichen Start in die Saison verholfen.
Grosse Dinge werden erwartet
Einen weiteren Motivationsschub erhält sie durch ihren neuen Sponsor. Ebenfalls seit Ende des vergangenen Jahres wird Senn nämlich durch das Schweizer Sportschuh-Unternehmen «On Running» unterstützt. Wie tief diese Verbindung ist, lässt sich beim Treffen vor ihrem Training unschwer erkennen – zum Gespräch taucht die Schülerin in weissen «On»-Laufschuhen auf.
Senn ist die jüngste offizielle «On»-Athletin, für beide Parteien dürfte der Deal einer sein, der sich auszahlt. So prophezeit «On» auf seiner Website: «Big things are expected of her career.» Man traut ihr eine grosse Karriere zu.
Selbst auf ihre Zukunftspläne angesprochen, stapelt Senn aber tief. «Ich möchte mich in den nächsten paar Jahren weiterhin verbessern, mich weiterentwickeln und auf jeden Fall die Aktiv-EM-Limite erreichen», sagt sie. Am Ziel ist sie noch lange nicht.
Vor rund neun Jahren hat Giulia Senn angefangen, sich mit Leichtathletik zu beschäftigen, ist bald dazu übergegangen, sich auf die Sprintdisziplinen zu fokussieren, hat sich erst den längeren Strecken gewidmet und seit drei Jahren nur noch dem 400-Meter-Lauf. Ihr Erfolg in dieser Disziplin kommt für sie selbst unerwartet: «Mich motiviert meine Entwicklung. Als ich angefangen habe, hätte ich nie gedacht, dass ich einmal so weit kommen werde.»
Genau diese Demut dürfte sie vielleicht einmal noch viel weiter tragen. Auf Instagram ist die junge Leichtathletin zumindest schon professionell unterwegs. So oft sie kann, postet sie Bilder oder Videos von ihren Wettkämpfen – oder eben auch Shootingbilder ihres neuen Sponsors. Partybilder sucht man vergeblich, die Kantischülerin ist diszipliniert, in ihrem durchgetakteten Alltag wäre auch kaum Zeit für Ausschweifungen.
In der Wettkampfphase trainiert Senn vier Tage pro Woche, schwitzt im Bahnen- oder Krafttraining, während ihre Wochenenden mit Wettkämpfen verplant sind. Den Ausgleich zu Schule und Sport liefern ihr Freunde und Familie.
Die Fussstapfen des Vaters
Ihr Talent zum Rennen kommt nicht von ungefähr, ist doch ihr Vater, Rolf Senn, einer der besten Triathleten der Schweiz. So gross wie seine Fusstapfen sind auch ihre Pläne: Es locken die nationalen Wettkämpfe, vom 18. bis 21. Juli die U20-EM, die Schweizer Meisterschaften und mit etwas Glück und Können auch die Diamond League in Lausanne. Ihre Ziele? «An den Schweizer Meisterschaften möchte ich wieder Erste oder mindestens Zweite werden und dazu die 54-Sekunden-Marke unterbieten.»
Noch bezeichnet sie als schönste sportliche Erlebnisse den Gewinn der Schweizer Meisterschaft sowie die europäische Jugendolympiade 2017 in Györ, an der sie den sechsten Platz erreichte. Zweiteres nicht etwa aufgrund ihrer Klassierung, sondern wegen «der schönen Stimmung, dem Drum und Dran und der grossen Eröffnungszeremonie». Kann Senn in dieser Saison vom Druck befreit einfach nur schnell rennen, so dürfte es wohl nicht bei diesen zwei Erinnerungen bleiben.