Gilberte lebt Weiter

Text und Bild: Larissa Gassmann, Badener Tagblatt, 8. September 2020

Vor fünf Jahren haben Evelyn und Bruno Bernasconi das geschichtsträchtige Hotel La Petite Gilberte in Courgenay übernommen. Mit ihrem Kauf wollen die beiden sicherstellen, dass der Mythos der Soldatenikone weitergetragen wird. Ein Besuch vor Ort.

Auf zwei Stunden verteilte 120 Kilometer trennen Courgenay von Baden. Während der Zug emsig durch die Ajoie schlängelt, vermischt sich vor dem Fenster das satte Grün des Waldes mit dem Gelb der Felder zu einem bunten Brei. Unendliche Weiten, schroffe Felsen und Bauernhöfe lösen sich in einem gleichmässigen Wechselspiel ab. Bis es irgendwann heisst «Prochain arrêt Courgenay». Die Hektik der Grossstadt hinter sich lassend, fühlt es sich so an, als würde man eine neue Welt betreten.

«Hier stellen sich einem auf einmal ganz andere Fragen als eigentlich gewohnt», sagt Evelyne Bernasconi. Vor fünf Jahren hat die gebürtige Jurassierin mit ihrem aus dem Tessin stammenden Ehemann Bruno das «Hotel de la Gare» ersteigert, dank dem die Wirtetochter Gilberte Montavon im ersten Weltkrieg schweizweite Bekanntheit erlangte. Praktisch die ganze Schweizer Medienwelt stürzte sich auf das in Killwangen wohnhafte und in Zürich eine Anwaltskanzlei betreibende Ehepaar Bernasconi.

«Der Kauf war für einmal eine Geschichte, die für alle Landesteile aufgegangen ist», sagt Bernasconi. Noch heute ist Gilberte kaum aus den Zeitungen wegzubringen. Nicht selten verirren sich Deutschschweizer der sporadischen Berichterstattung wegen in das 2000-Seelen-Dörfchen. Auch an diesem Tag, an dem die Hitze nur so auf den bestuhlten Hinterhof des Hotels knallt, ist Bernasconi schwer beschäftigt. Unaufgeregt spricht sie mit den geschichtsinteressierten Besuchern, macht Fotos mit ihnen, wandert von einem Tisch zum nächsten.

Eine Heldin ohne Pathos

Dass die Rolle der Gastgeberin keine ist, die sie schon seit Jahren inne hat und sie das jurassische Wirtepatent erst vor drei Jahren erworben hat, fällt kaum auf. Ursprünglich wie ihr Mann Vollzeit als Anwältin tätig, pendelt Bernasconi heute bis zu drei Mal pro Woche vom Aargau aus in Richtung Courgenay. An den Ort, in dessen Nachbargemeinde Alle sie einst aufgewachsen ist. 120 Kilometer. Zwei Stunden. Zeit genug, sich auf die Reise in die Vergangenheit vorzubereiten. Oder ist es doch viel mehr eine in die Zukunft? Von einer Zerrissenheit will Bernasconi nicht sprechen.

«Die zwei Welten trägt man immer in sich. Das man sich damit stets beschäftigt, war für uns immer klar», so Bernasconi. So war der Erwerb des Hotels primär eine Herzensangelegenheit. Eine, die sich voll und ganz um die eigenen Wurzeln, aber auch die von Gilberte dreht.

Die «echte» Gilberte Montavon, mit Soldaten vor dem Wirtshaus. © zvg

Deren Wirken ist in jedem Winkel des Hauses spürbar. Hunderte von Bildern und Büchern sind in den Räumlichkeiten verteilt. Ein schwerer Hauch von Geschichte hängt in der Luft und raubt doch nicht den Atem. War Gilberte letztendlich doch viel eher Mensch denn Ikone. Dank ihren als Au-Pair erworbenen Deutschkenntnisse und ihrem Charme zum Liebling der Soldaten geworden, die fernab ihrer Heimat nahe der Grenze ausharren mussten. Eine Heldin ohne Pathos.

Im Schnelldurchlauf durch das letzte Jahrhundert

Fein säuberlich hat Bernasconi sämtliche Dokumente zur Geschichte des Hauses in einem Ordner abgelegt. Da ein Soldaten-Liederbuch, dort ein Stammbaum. Alte Porträtaufnahmen von Gilberte, das Drehbuch des 1941 erschienenen Films und Karten. Mit jeder umgeblätterten Seite reisen wir ein bisschen schneller durch das letzte Jahrhundert.

Schon vor dem Kauf des Hauses interessierte sich Bernasconi für Geschichte. Als Kind einer deutschen Mutter und eines Schweizer Vaters wurde ihr dies in die Wiege gelegt. Immer wieder besucht sie die Orte, an denen Schweizer, Deutsche und Franzosen gekämpft haben. Aber auch die, an denen friedlich zusammen Karten gespielt wurde. So zum Beispiel [Insert Ortsnamen] «Es ist ein Dokument für die Sinnlosigkeit des Krieges», sagt Bernasconi. Vor Ort laufe es ihr jedes Mal wieder kalt den Rücken herab.

Dass die jüngere Generation auch das geschichtsträchtige Hotel nahe der Grenze nicht vernachlässigt, bezeichnet sie als ihre Mission. «Das Ganze darf nicht vergessen gehen. Es ist ein wichtiger Punkt in der Geschichte der Schweiz», sagt sie. «Mit Freude habe ich zur Kenntnis genommen, dass die Jungen sich sehr dafür interessieren, wenn man sie darauf aufmerksam macht.»

«Im ersten Moment war ich komplett sprachlos»

So erzählt Bernasconi beim gemeinsamen Mittagessen davon, wie sie auf der Suche nach dem in Zürich lokalisierten Grab von Gilberte Montavon auf einen jungen Friedhofsgärtner stiess, der sofort sein Handy aus der Tasche zog, um das in der Rekrutenschule gelernte Lied «Gilberte de Courgenay» der Entlebucher Militärmusiker Robert Lustenberger und Oskar Portmann anzustimmen.

Ein ganz persönliches Highlight überragt allerdings alles zuvor Dagewesene. So erzählt die Gastgeberin von der Begegnung mit einem alten Mann, bei dessen Hochzeit ihr früh verstorbener Vater Trauzeuge war. «Ich habe überhaupt nicht erwartet, dass hier noch Menschen leben, die ihn kennen könnten. Im ersten Moment war ich komplett sprachlos», sagt sie.

Nebst den lokalen Gästen empfängt Bernasconi im «La Petite Gilberte» auch Personen aus dem Ausland. Wer aus der Deutschschweiz anreist, tut dies wiederum, wenn ein persönlicher Bezug zur Geschichte vorhanden ist. «Es kommen mittlerweile aber auch viele Menschen vorbei, die realisieren, was das Haus für die Schweiz bedeutet hat», so Bernasconi.

Sie kannte 300’000 Soldaten und alle Offiziere

So waren zur Zeit des ersten Weltkrieges tausende Soldaten rund um Courgenay stationiert. Schnell wurde der Saal des «Hotel de la Gare» zur Anlaufstelle für die Männer. Zu einem Ort, an dem man die prekäre Lage und die Angst vor dem drohenden Unheil für ein paar Stunden vergessen konnte.  «300’000 Soldaten und alle Offiziere» kannte die damals erst 21-jährige Gilberte laut eigener und  wohl deutlich überspitzer Aussage, wie das Lied besagt. Während ihrer Zeit im Elternhaus griff sie den vom Heimweh geplagten Soldaten unter die Arme, nähte Knöpfe an und schrieb auf der Schreibmaschine Briefe.

Sich in die Zeit ihres Wirkens zurückzuversetzen fällt an diesem Ort kaum schwer. Die sorgsam ausgewählten Möbelstücke in den Hotelzimmern sind Zeugen einer längst vergangenen Ära. Der schlichte Schreibtisch im ersten Stock. Der blumenberankte Waschkrug. Die massive weisse Badewanne.

Als die Bernasconis den Zuschlag erhielten, wurde das alte Gemäuer erst einmal von Plastik befreit. Im Dorf bekannt, trug man Evelyn Bernasconi mehrere Stücke zu, darunter gar das Ehebett von Gilberte Montavon. Seit das Ehepaar das Hotel übernommen haben, hat sich einiges getan. Die bisherigen Begegnungen und Erlebnisse lassen so manche Mühe in Vergessenheit geraten. «Man muss einiges dafür tun, aber das Erfolgsgefühl ist genial», sagt Bernasconi, bevor sie sich nach einem langen Arbeitstag wieder in Richtung Killwangen begibt.

Das Hotel wieder verlassend, reissen einem die warmen Sonnenstrahlen am späten Nachmittag beinahe unsanft wieder zurück in das Hier und Jetzt. Sich von der Vergangenheit zu lösen, fällt dennoch schwer. Am Bahnhof warten drei heimgekommenen Rekruten auf ihre Freundinnen. Die Zeit ist ein Kreis. 120 Kilometer trennen Baden und Courgenay. Und doch zieht das Leben letztendlich überall gleichmässige Bahnen.

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