Den Stier umstossen – Wie Ralf Rangnick die Bundesliga prägt

Den roten Bullen hat Rangnick den Faden in der ebenfalls gleichen Farben geschenkt, der Bundesliga einen weiteren Schritt nach vorne. Professor, Revoluzzer, Provokateur. Ralf Rangnick musste viele Transformationen durchleben, um sich eine ganze Liga untertan machen zu können. Ein Text über passende Wortkombinationen, eine Ode an den Trainerberuf und einen Mann, den eigentlich niemand so richtig mag.

Wer ab und an auf die Tabelle der Bundesliga schielt, der dürfte – sofern er denn nicht Fan von Bayern München ist – angenehm überrascht sein. Selten war die Liga so spannend, selten wurden die achtzehn Vereine derart durcheinandergewirbelt. Absehbar? Das war einmal. Den Fans und neutralen Zuschauern wird Spieltag für Spieltag Spektakel geboten.

Einer, der dabei ebenfalls immer wieder auf seine Kosten kommen dürfte, ist Ralf Rangnick. Der die Bundesliga zwar verlassen hat, aber von dem in dieser Liga trotzdem noch so vieles abhängt. Oder um es einfacher auszudrücken: Er klebt an ihr, gerade so wie ausgeleertes Red Bull, das sich überall festsetzt. Die prophezeite „Rangnickisierung der Bundesliga“ ist eingetreten – vielleicht sogar eindrücklicher als erwartet. Denn betrachtet man die erste Tabellenhälfte der Bundesliga, so tummeln sich da nur drei Vereine, bei denen sich keine Verbindung zu Ralf Rangnick ausfindig machen lässt.

Der grösste Sonderling ist dabei wieder einmal der SC Freiburg und Christian Streich. Doch auch der BVB gehört zu dieser erlesenen Truppe. Egal wie oft man es dreht und wendet. Die restlichen Vereine weisen dafür eine klare Linie zu Ralf Rangnick und/oder Red Bull Salzburg auf. Am deutlichsten und bekanntesten dürfte wohl die Verbindung zu RB Leipzig sein. Allseits bekannt, allseits ein Dorn im Auge. Wie bei Trainer Julian Nagelsmann ist auch bei Schalkes David Wagner Hoffenheim das bindende Glied in der Kette, unter Rangnick haben beide einst bei der TSG als Jugendtrainer gearbeitet.

Bei Marco Rose, Adi Hütter, Niko Kovac und Oliver Glasner heisst das Zauberwort hingegen Salzburg. Als Sportchef oder Trainer sorgte Rangnick damals für das Entstehen dieser Beziehungen. Und somit zugleich auch für das Gedeihen ganzer Karrieren und Erfolgsgeschichten, die nun in dieser Saison einmal mehr erzählt werden. Doch um sein volles Wirken verstehen zu können, reicht ein Blick auf die aktuelle Bundesligatabelle kaum aus. Eine Reise in die Vergangenheit wäre da eher angebracht.

Ralf und Ronaldo

Dass Rangnick kein allzu grosser Fussballer war, dürfte allseits bekannt sein. Dafür wurde der ehemalige Sport- und Englischstudent bald Musterschüler des Fussball-Lehrer-Lehrgangs in Köln. Mit einem mit einem Notendurchschnitt von 1,2 erwarb er im zarten Alter von 26 Jahren die Fussballlehrer-Lizenz. Es war der Beginn einer Erfolgsgeschichte, geprägt durch Dynamo Kiews Walerij Lobanowskyj, der Rangnick mit Viererkette und Pressing in seinen Bann zog.

Von Anfang wollte er von den ganz Grossen lernen. Nicht von den Superstars auf dem Rasen, sondern von den stillen Denkern neben dem Platz. Er saugte jeden Informationsfetzen auf. Ahmte erfolgreich Funktionierendes nach. Bis er irgendwann selbst gestalten wollte. Innovativer Spielertrainer, Streber, Revoluzzer: Rangnick hatte schon damals viele Rollen. Doch vor allem hatte er von Anfang an ein gutes Auge für Talente. Einst noch als Jugendkoordinator im Schwabenland tätig, riet er 1994 dem VfB Stuttgart dazu, Ronaldo zu erwerben.

Der Deal platzte, Stuttgart bekam kalte Füsse, doch Rangnick brachte diese Episode nicht von seinem Weg ab. Unermüdlich machte er immer weiter, bis sich seine Mühen irgendwann einmal auszuzahlen begannen. Im Verlauf seiner Karriere hat er zahlreiche Spieler entdeckt, gefördert und erfolgreich gemacht.

Er hat mit dem Dorfverein Hoffenheim das Märchen geschrieben, das eigentlich keiner wollte. Auf das keiner gewartet hat. Gleich erging es ihm Leipzig. Immer wieder feierte er Erfolge. Nie die ganz grossen Geschichten, wertvoll waren sie trotzdem. An dieser Stelle könnte das Ganze ein gewöhnlicher Text über einen gewöhnlichen Trainer werden. Aber gewisse Wortkombinationen sehen einfach schon auf den ersten Blick falsch aus. „Rangnick“ und „gewöhnlich“ gehören dazu.

Betrachtet man die oben aufgeführten Trainer, so dürfte einem klar werden, dass Rangnick eigentlich nicht einmal die Bezeichnung „Trainer“ gerecht wird. Von grossen Persönlichkeiten wie Arrigo Sacchi oder Walerij Lobanowskyj inspiriert, sollte er bald derjenige sein, der zum Vorbild für seine Schützlinge wurde.

Den Absprung gewagt

Wie kein anderer hinterliess er dabei seine Spuren. Längst nicht nur in der heimischen Liga. Seine Protegés sind weiter in die Welt herausgezogen als er es jemals als Trainer getan hat. Während sich sein Radius auf die geliebte Bundesliga beschränkte, wagten sie den Absprung. Thomas Tuchel gehört dazu, hierzulande in der Super League ein Peter Zeidler.

Dieser arbeitete in Hoffenheim und in Salzburg mit ihm, überzeugt momentan mit St. Gallen, in dem er auf junge Spieler setzt. Wenn Zeidler über diese zwei hinter sich gelassenen Stationen redet, kommt er selten darum herum, nicht auch über Rangnick zu reden. «Einer der wichtigsten Protagonisten war jeweils Ralf Rangnick, der in meiner Karriere eine grosse Rolle gespielt hat. Diese Schule hat mich geprägt», wird er vom Tagblatt zitiert.

Ähnliches berichtet auch sein ehemaliger Spieler, Thomas Tuchel, den Stuttgarter Nachrichten über Rangnick. «Er hat mir das ballorientierte Spiel beigebracht», sagt Tuchel, «das war prägend.»

Eine perfekte Wortkombination

Der Anfang dieser vielleicht speziellsten Beziehung liegt von all den bisher genannten Verbindungen am weitesten zurück. Während seiner Zeit in Stuttgart wurde Rangnick nicht nur auf Ronaldo aufmerksam – er entdeckte dort auch den jungen Tuchel. Was wie ein Downgrade klingt, ist der Beginn einer weiteren Erfolgsgeschichte, die ihre Kreise bis nach Paris zieht. Nicht nur, weil Rangnick so unverschämt unkonventionell denkt.

Er war es, der Tuchel anriet, eine Trainerausbildung zu machen. Und er war es, der ihm – als ebenfalls eher mässig begnadeter Spieler – den Weg ebnete. Selbst wenn Thomas Tuchel später Hermann Badstuber- den Vater von Holger Badstuber – als seinen grössten Lehrmeister bezeichnen sollte: Rangnick hat seine Laufbahn entscheidend geprägt.

Wieder einmal. Immer wieder ist von Prägung die Rede, wenn es um Rangnick und seinen Einfluss geht. „Prägend“ und „Rangnick“ – das ist zum ersten Mal eine Wortkombination die perfekt aufgeht. So gut, dass er es sich nie nehmen liess, ein Talent nach dem anderen an den Trainerberuf heranzuführen.

Wir können die Liste eigentlich ewig weiterführen, so viele dieser kleinen und doch so grossen Geschichten gibt es. Auch bei Oliver Glasner lief es ähnlich ab. Auch er wurde von Rangnick als Trainer entdeckt. Auch er redet davon, wie prägend es war, mit ihm zu arbeiten und immer wieder von ihm zu lernen.

Der Blick auf das grosse Ganze

Deutschland liebt seine Trainer. Deutschland tut vieles für seine Trainer. Aber reicht das aus? Es könnte mehr Menschen wie Rangnick geben. Es sollte mehr wie Rangnick geben. Das wird nicht nur durch all diese Beziehungen zu den in Deutschland agierenden Trainern sichtbar. Er ist so wichtig wie kaum ein anderer. Weil er das Unkonventionelle wagt. Egal, was es kostet – ein Mäzen wird es ja letztlich bezahlen.

Er ist gerade deswegen so wichtig, weil er nicht nur auf dem Platz Verbesserungspotential sieht, sondern als einer der ganz wenigen auch den Blick auf das grosse Ganze nie verliert. Es auch wagt, Probleme offen anzusprechen.

Mitte des Jahres hat er nicht zum ersten Mal während seiner Laufbahn Alarm geschlagen. Die Bundesliga verliere an Wettbewerbsfähigkeit, an Qualität, liess er beim beim F.A.Z.-Kongress „Zwischen den Zeilen“ verlauten. Es fehle an Top-Trainern. Alles sei ein wenig langsam geworden, zu oft zu gemächlich. Vor allem bei Veränderungsprozessen. Ebenso bei der Ausbildung der Spieler. Es waren scharfe Worte.

Ähnlich gesprochen hat er schon Anfang des Jahres in einem grossen Kicker-Interview. Dort brachte er sogar konkrete Vorschläge vor. «Aktuelle oder frühere Trainer sollen viel mehr in die praktische Trainerausbildung eingebunden werden», forderte er damals.

Als Person, deren Trainerlaufbahn eigentlich ein wahres Wunder ist. Nicht wirklich vorbestimmt, möchte man meinen. Dennoch hat Rangnick so sehr wie kein anderer ein Anrecht auf seine Kritik.

Maric und die seltenen Experimente

Als Trainer, der nie ein überragender Spieler war, steht er für die neue Generation, die auf den Plätzen dieser Welt gerade ihr Glück versucht. Die neuen Trainer dieses Landes. Er war und ist Vorbild, Vorreiter, Förderer. Einer, der sich nie zu schade war, sich starke Partner ins Boot zu holen. Nicht der einzige in dieser Form, aber der wohl lauteste. Deutschland hat sich immer damit gebrüstet, eine Nation der Trainer zu sein. Aber fördert es sie jemals so gut, wie es Rangnick mit seinen Schützlingen getan hat?

Wenn René Maric im 11-Freunde-Interview davon spricht, sich seit 20 Jahren mit der Materie zu beschäftigen, dann fragt man sich (als Aussenstehender), ob es nicht auch Strukturen für jüngere Menschen benötigt, für die von Anfang an klar ist, dass sie einmal als Trainer arbeiten wollen.

Ob nicht zu viele Talente unter dem Radar verschwinden. Es wird nicht immer einen Rangnick geben, der sie alle aufbaut und immer zur Stelle ist. Gute Spieler werden schon in den jüngsten Jahren gejagt, gefördert und sorgsam aufgebaut. Von Trainern aber verlangt wird, von Anfang an eine gestandene Persönlichkeit zu sein. Experimente werden eher selten gewagt. Wo viel Geld im Spiel ist, sind auch die Zweifel gross. Immer noch. Auch in dieser Zeit, in der sich so vieles tut. Der SFV Lehrgänge für Spielanalyse anbietet (endlich!), Taktikblogs boomen und einzelne Spielszenen selbst in der behüteten Sportschau seziert werden.

Die ersten Nerds der Fussballszene

Gerade jetzt wächst eine neue Generation heran. Eine, die vielleicht noch durstiger nach Wissen ist, als diese rund um Rangnick, die damals alles ins Rollen gebracht hat. Typen wie Helmut Gross, Ralf Rangnick, Jogi Löw, Rainer Adrion, Robin Dutt und viele weitere Persönlichkeiten bildeten eine Gruppe aus Taktik-Nerds, bevor dieses Wort überhaupt in Mode war.

Unvergessen bleibt der Moment, als Rangnick 1998 im ZDF-Sportstudio probierte, dem noch nicht allzu bereiten Deutschland an der Tafel die Viererkette erklärte. Oder zu erklären probierte. Da war nämlich Ehrfurcht da. Vor einer Viererkette. Er war seiner Zeit voraus. Die Fussballwelt hielt einen Ralf Rangnick nicht immer aus.

Alsbald wurde er als ungeliebter Professor verschriene. Immer wieder belächelt. Freilich nicht nur, weil er im Fernsehen händeringend einem Land voller Kämpfer und Läufer versucht hat, eine Viererkette näherzubringen. Er gab sich zu keiner Zeit nahbar, blieb immer etwas auf Abstand. Wenn er an die Öffentlichkeit trat, dann oft auch, um zu provozieren. Selten gab er Einblicke in sein Innenleben.

Das Alles-oder-Nichts-Prinzip

Falls er es doch wagte, taten sich Abgründe auf. Dann legte er auch gleich alles auf den Tisch. Dann war offen und schonungslos die Rede von Versagensängsten und Schlafstörungen. Ein gesundes Mittelmass scheint es für ihn nicht zu geben. Das Alles-oder-Nichts-Prinzip wurde für Rangnick erfunden. Er zelebriert es liebend gerne. Dafür bezahlte er aber auch immer wieder seinen Preis. Nicht nur gesundheitlich. Trotzdem oder gerade deswegen hat er immer an sich und seinen Idealen festgehalten.

Hoffentlich, so möchte man sagen, tut ihm dies die neue Generation gleich. Denn auch wenn für diese Trainer neue Regeln und neue Gesetze gelten, ist so vieles gleich geblieben. Viele Strukturen so fest in Stein gemeisselt, dass Rangnick wohl noch das eine oder andere Mal für den ambitionierten Nachwuchs in die Bresche springen muss. Er wird es liebend gerne tun, da bin ich mir sicher.

Die Vermessung des Fussballs

Alles was ihn ausmacht, muss man nicht mögen. Auch nicht die Vereine, die zurzeit wegen – oder trotz ihm an der Tabellenspitze stehen. Leipzig und Rangnick werden wohl nie wirklich die Form von Liebe bekommen, die ihr Fussball verdient hätte. Platz für Hass sollte trotzdem nicht sein. Viel mehr muss man anerkennen, wie Rangnick den Fussball überdenkt. Sich für seine Visionen immer wieder nahezu aufgibt. Tag für Tag.

Er weiss immer über alles etwas besser Bescheid als der Rest. Ist immer auf Achse. Floskeln kommen bei ihm nur zum Einsatz, wenn es darum geht die zu kritisch betrachtenden Verbindung zwischen den Red Bull Konstrukten zu dementieren. Hat Bielsa den Fussball wirklich vermessen? Cruyff und Guardiola den zu bespielenden Raum? Falls ja, welche Rolle kommt dann Rangnick zuteil?

Dem Mann, der sich so stark von all den anderen eben genannten Trainern unterscheidet. Oft kalt und herzlos wirkend, würde man ihm so eine Vermessung eigentlich am meisten zutrauen. Er ist kein Verrückter, kein Romantiker, keiner wie Marcelo Bielsa.

Head of Sport and Development Soccer

Rangnick wirkt so, als könne er dieses so wunderbare Spiel nur lieben, wenn er es beherrscht. Er ist gleichfalls niemals so charismatisch wie Pep Guardiola. Aalglatt ist er, kaum fassbar. Trotzdem wirkt er nicht wie einer, der in seiner eigenen Welt lebt. Er ist da. Im Hier und Jetzt.

Wo er „Head of Sport and Development Soccer“ von Red Bull ist. Eine spezielle Funktion. Ein gar sperriger Begriff. Eine Wortkombination, die mal wieder nicht aufgeht. Passt das zu Rangnick? Vermutlich ist die Antwort «Ja». Weil er mehr als nur ein Trainer sein will, wie er einst sagte. Doch die Frage ist auch, wie lange ihn das denn erfüllt. Will er irgendwann zurück? Kann ein Rangnick ohne die Bundesliga leben? Und wie sieht das Ganze überhaupt umgekehrt aus?

Den roten Bullen hat Rangnick den Faden in der ebenfalls gleichen Farben geschenkt. Der Bundesliga einen weiteren Schritt nach vorne. Die Zukunft ist wieder einmal hier. Alle Jahre wieder, immer ein wenig in einem anderen Gewand. In dieser Saison in From der Absenz von Ralf Rangnick. Trotzdem schwebt sein Geist über dieser Spielzeit, wie niemals zuvor. Wenn man das Spiel der durch seine Schützlinge geleiten Mannschaften betrachtet, weiss man, dass er immer noch hier ist. Er hat die Bundesliga fest im Griff. Auch, in dem er Trainern im Nacken sitzt, die um ihren Job fürchten. Er prägt diese Saison. Bis einer es wagt, den Stier ein für alle Mal umzustossen.

Schreibe einen Kommentar