«Es fühlt sich saugeil an»

Text: Larissa Gassmann, Aargauer Zeitung, 17. Dezember 2020

In einer eigenen Telegram-Gruppe geben sich Aargauer Maskenkritiker gegenseitig Tipps, wo trotz Schutzkonzept ohne Maske eingekauft werden kann. Auch die Läden sind dabei nicht unschuldig.

Es brauche viel Mut und Nerven, schreibt Silvia. «Nach dem Einkauf fühlt es sich aber saugeil an, wenn man positive Erlebnisse hatte.» Seit Ende Oktober ist Silvia (Username geändert) Mitglied einer Telegram-Gruppe von Aargauer Maskenkritikern. Auf dem Nachrichtendienst informieren sich die Angehörigen der Gruppe darüber, in welchen Geschäften trotz Maskenpflicht ohne Schutz eingekauft werden kann.

«Kundenfreundliche Läden» nennen die Mitglieder die Geschäfte, in denen sie nicht zum Tragen einer Maske aufgefordert werden oder in denen nicht nach einem Attest gefragt wird. «Maulkorb» oder «Windeln», das sind wiederum die Gesichtsmasken. Eine ähnliche Gruppe existiert im Kanton Zürich, in einer nationalen Gruppe werden die  Erlebnisse vor Ort zusätzlich fotografiert oder gefilmt. 

Offen berichten die Nutzerinnen und Nutzer im Chat von ihren medizinischen Problemen, die ein Einkaufen mit Maske verunmöglichen. Und doch: Ein ärztliches Maskendispens besitzen nicht alle 81 Mitglieder der Aargauer Gruppe. Immer wieder kursiert im Chat das «Sach- und Rechtsattest» des Bündner Anwalts Heinz Raschein, über das diverse Medien berichteten. Damit könne man sich problemlos ohne Maske im öffentlichen Raum bewegen, heisst es. Egal ob Lehrer, Verkäufer oder Fitnesscenterbetreiber: Wer das Attest nicht akzeptieren will, der wird aufgefordert, diesen Entscheid per Unterschrift zu bestätigen. Wer dies tut und weiterhin auf eine Maskenpflicht besteht, dem werden rechtliche Schritte wegen Nötigung angedroht.

«Das Schreiben ist eine reine Lachnummer»

Dem Zürcher Rechtsanwalt Martin Steiger ist das Schreiben bestens bekannt. «Was in diesem Attest steht, ist Geschwurbel, das keinerlei rechtliche Bedeutung hat», sagt er auf Anfrage. Mehrmals schon wurde er von diversen Personen gefragt, ob man das Attest unterschreiben und akzeptieren muss. Er verneint vehement. «Das Schreiben ist eine reine Lachnummer.» Gleich sieht das Regina Aebi-Müller, Professorin für Privatrecht an der Universität Luzern, die im November im Beobachter Auskunft gab: «Ein solches Schreiben ist mit Sicherheit kein gültiges Attest, das von der Maskenpflicht befreit. Der Anwalt hat juristische Schein­argumente wild zusammengewürfelt.»

Raschein selbst sagte damals zum Beobachter, er wolle mit dem Schreiben «die letzten Reste einer einstmals vorhandenen Schweizer Demokratie zu retten». Es sei allerdings kein Attest zur Masken­dispens: «Wenn man den Text genau liest, weiss man, dass ich mit dem Dokument nur die Rechtslage bestätige, aber kein Attest ausstelle.»

Anders sehen das die Maskengegener. Sie setzen auf das «Sach- und Rechtsattest» und somit darauf, dass es nicht überprüft oder trotzdem akzeptiert wird. Eine Nutzerin berichtet von einem Besuch in einem Bioladen, den sie mit dem Schreiben bestritt. «Ich habe daraus gelernt, dass es scheinbar besser ist, einfach wie selbstverständlich reinzugehen und davon auszugehen, dass alles gut geht», schreibt sie. Längst nicht in alle Läden nehmen es zudem mit der Kontrolle allzu genau. Die Gruppenmitglieder berichten von Ladenbetreibern, die zugeben, dass bei ihnen nicht nach dem Attest oder der Maske gefragt wird. Ein Mitglied schreibt, dass es in einem Hofladen früher als alle anderen einkaufen durfte, damit keine Diskussionen mit anderen Kunden entstehen. Eine Nutzerin will wissen, wie es bei Ärzten und Therapeuten aussieht. Sie dürfe nicht Werbung machen, schreibt eine Alternativmedizinerin. Aber: «Ich würde dich in meine Praxis lassen. Es gibt doch einige Klienten, die es ohne Maske vorziehen.»

Die Situation ist für alle sehr herausfordernd

Auch Filialen von grossen Detailhändlern wie Migros und Coop befinden sich unter den aufgelisteten Läden. Auf Anfrage heisst es bei Coop, dass die Angestellten auf die Thematik sensibilisiert wurden. «Entsprechend der gesetzlichen Pflicht sprechen sie Kundinnen und Kunden an, die keine Maske tragen», schreibt der zuständige Mediensprecher. Nur wer ein Maskendispens vorweisen kann, dürfe grundsätzlich ohne Maske einkaufen. «Um die Persönlichkeitsrechte zu schützen, muss auf der Dispens lediglich festgehalten sein, dass jemand von der Maskenpflicht befreit ist, ohne das zugrundeliegende Krankheitsbild zu erwähnen», heisst es. Einzelne Ausnahmefälle würden individuell behandelt und bei Bedarf durch eine Taskforce begleitet, die national für sämtliche Themen rund um die Pandemie zuständig ist.

Wie Coop erwähnt auch die Migros, dass sich die meisten Kunden diszipliniert und verständnisvoll zeigen. Trotzdem sei die Situation für alle sehr herausfordernd. «Kunden, welche beim Eintreten keine Maske tragen, werden von unseren Mitarbeitenden auf die Maskentragpflicht aufmerksam gemacht», schreibt die Mediensprecherin der Genossenschaft Migros Aare. «Sollten sich Kunden, welche keine medizinischen Gründe haben, weigern eine Maske zu tragen, bitten wir diese die Filiale zu verlassen. Es darf dann nicht eingekauft werden.»

Nicht selten kommt es in solchen Fällen zu Diskussionen mit dem Verkaufspersonal. So hat eine Frau laut der Aargauer Staatsanwaltschaft eine Anzeige wegen Nötigung gegen das Personal eines nicht genannten Ladens erstattet. Dies, weil die Angestellten ihr ohne Schutzmaske den Zutritt zum Laden verweigert haben. «Die Oberstaatsanwaltschaft hat diese Anzeige jedoch nicht an die Hand genommen, weil das Personal durch das Wegweisen der Frau klarerweise keine strafbare Nötigungshandlung vornahm, sondern seiner rechtlich gebotenen Pflicht und Verantwortung nachgekommen ist», schreibt Fiona Strebel, Sprecherin der Aargauer Oberstaatsanwaltschaft.

Ein Nutzer im Chat rät derweil, bei Streitigkeiten immer nach den Vorgesetzen zu fragen. «Ich spüre, dass es die Leute unsicher macht, wenn ich ohne Maske dastehe», schreibt Silvia. Und doch: Die Geschäfte sitzen am längeren Hebel. Weil ein Attest nicht vor Ansteckungen schützt, kann selbst Menschen mit einem berechtigten Maskendispens der Eintritt in gewisse Räumlichkeiten verweigert werden. Auf diese Regelung setzt der Möbelgigant IKEA.

Die Echtheit der Atteste darf überprüft werden

«Wer die anderen Anwesenden in seinem Ladenlokal schützen möchte, muss ein Attest nicht akzeptieren», sagt denn auch Steiger. Oft finde man aber vor diesem drastischen Schritt einen gemeinsamen Weg. Wer ein berechtigtes Attest habe, sei meistens an einer Lösung interessiert, so Steiger. Im Zweifelsfall haben Ladenbetreiber laut ihm die Möglichkeit, die Echtheit der Atteste anhand von Telefonaten zu überprüfen.

Denn: Wer als Ladenbetreiber das Schutzkonzept und die geltende Maskentragpflicht vorsätzlich nicht durchsetzt, dem drohen Strafen. Dies besagt der Artikel 13 der Covid-19-Verordnung besondere Lage. Wie ein Betreiber die Maskentragpflicht durchsetzen will, müsse er selber entscheiden, schreibt Fiona Strebel. «Ein zweckmässiges Vorgehen ist es, Personen, die keine Gesichtsmaske tragen und keine Ausnahmeregelung unmittelbar und sofort belegen können, den Zutritt zu verweigern.»

Konsequenzen drohen wiederum den Mitgliedern des Chats keine. «Wenn man bloss erklärt, wo man ohne Maske einkaufen kann, dann fällt das noch nicht unter Anstiftung oder Gehilfenschaft», sagt Steiger. Nur wer tatsächlich ohne den Nachweis von medizinischen Gründen auf die Gesichtsbedeckung verzichtet, erhält ab dem nächsten Jahr eine Ordnungsbusse. Die entsprechende Änderung des Ordnungsbussengesetzes hat das Parlament vor zwei Wochen in der Wintersession gutgeheissen.

Was ist Telegram überhaupt?

Telegram wurde 2013 von zwei russischen Brüdern gegründet. Allein aus dem Aargau tummeln sich über fünf verschiedene Gruppen von Corona-Skeptikern auf der App, der Chat der Maskenkritiker ist nur einer davon. Entstanden sind sie zum Teil als Abspaltung der «Corona Rebellen Schweiz», deren Gruppe über 5’000 Mitglieder fasst. Die meisten Chats sind vollgestopft mit Links zu Videos, Verschwörungstheorien und Karikaturen. Viele Mitglieder halten sich gleichzeitig in mehreren Gruppen auf, der Zusammenhalt wächst dadurch immer weiter. Organisiert werden von hier aus Unterschriftensammlungen für das Referendum gegen das Covid-19-Gesetz, das gemeinsame Einkaufen ohne Maske oder Verteilaktionen von Flyern. Nicht in allen Chats geht es nur um Corona.

Diskutiert wird über die US-Wahlen, den Terroranschlag in Wien, die Gefahren von 5G. Die meisten in solchen Chats getätigten Aussagen fallen laut Steiger, der sich auf Recht im digitalen Raum spezialisiert hat, in den Bereich der freien Meinungsäusserung. Sobald aber antisemitische Symbole verbreitet werden, wie es Impfgegner mit dem Judenstern tun, sei das je nachdem eine Form der Rassendiskriminierung. Auch ehrverletzende Äusserungen über Politikern und Journalisten sowie Aufrufe zur Gewalt unterliegen nicht dem Schutz der Meinungsfreiheit. «Gerade in solchen Gruppen stacheln sich die Mitglieder schnell gegenseitig auf. Dann kann es gut sein, dass der eine oder andere in den Bereich der Strafbarkeit rutscht», sagt Steiger.

Lehrer, Bäuerinnen und Homöopathen Seite an Seite

Trotzdem gehen die Nutzer mit ihren Daten locker um. Während die Swiss-Covid-App als Datenschutzmonster beschimpft werden, geben die Mitglieder in den Chats genügend Dinge preis, die nur in wenigen Minuten eine erfolgreiche Personensuche ermöglichen. In den Aargauer Gruppen tummeln sich Lehrer, Bäuerinnen, Homöopathen. Junge und alte Menschen, Frauen und Männer, sogar einige Paare. Zum Teil auch mit Klarnamen. Ob die Gruppe einfach als geschützter Raum wahrgenommen wird, oder ob man das Gefühl hat, tatsächlich nichts zu befürchten, bleibt offen. 

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