Gegen die Angst vor der Dunkelheit

Text: Larissa Gassmann, Bild: Nicole Nars-Zimmer, bz Basel, 7. Juni 2021

Dunkle Strassen und Gassen bergen nicht selten Gefahren. Das Projekt «Raum für alle» dokumentiert nun die Erlebnisse und Gedanken verschiedener Baslerinnen. Möglich machen dies die beiden Studentinnen Annick Senn und Larissa Bucher.

Sie heissen Adina, Leonie, Ramaela, Rebecca und Soumaya. Sie alle sind Baslerinnen, im Alter zwischen 21 und 25. Aber wichtig sind in dieser Geschichte weder ihre Namen noch ihre persönlichen Angaben. Denn: Was das Quintett erlebt und fühlt, das gilt auch für andere Frauen. Ihre fünf Geschichten stehen sinnbildlich für all das, was sich real oder zumindest in den Köpfen vieler abspielt, sobald die Dunkelheit über Dörfer und Städte hineinbricht.

Sie habe einen Tick, sagt Adina. Ohne Abstand zwischen Haustüre und parkierten Autos fühlt sie sich unwohl. Sie läuft am Abend durch die Maulbeerstrasse. Vom Gehen gerät sie leicht ins Keuchen, der Regen vermischt sich mit ihren Atemgeräuschen. Kaum jemand ist zu sehen. Wenn, dann nur Männer. «Ich vermeide es, allein unterwegs zu sein», sagt Adina. Die Strassen sind endlos lang. Sie fühlt sich angreifbar. Alles ist unangenehm.

Alles muss sich demzufolge ändern, finden Annick Senn und Larissa Bucher. Beide wollen die Angst vor der Dunkelheit dokumentieren. Losgeschickt haben sie dazu fünf Frauen. Alle haben verschiedene Wege in Basel abgelaufen und ihre Erfahrungen kommentiert. Das Ganze nennt sich «Raum für alle» – per QR-Codes, die ab Juli an den Orten hinterlegt werden, gelangt man auf die gleichnamige Website, auf der die Tondokumente hinterlegt sind.

«Wir setzen dort an, wo Diskriminierung zur Normalität geworden ist», sagt die 21-jährige Senn. Denn: Nicht selten wird die Angst verdrängt oder die Gefahr von Anfang an vermieden. Das dem so ist, macht Senn und Bucher weder traurig noch lähmt es sie. Beide sind «hässig». Und beide haben «keinen Bock mehr». Sexuelle Belästigung haben auch sie schon erlebt. Und doch soll es hier nicht um ihre Geschichte gehen.

Freitagabend am Rheinbord. Alle Wärme ist aus der Stadt gewichen. «Die Kälte macht alles einsamer und eintöniger», sagt Rebecca. Zwei Männer pfeifen ihr nach. Sie läuft schneller. Die Männer hinter ihr ebenso. Schritt und Herzschlag liefern sich ein Wettrennen. «Verpisst euch endlich», schreit sie irgendwann. Die Männer wechseln die Strassenseite. Das Machtspiel ist beendet. Rebecca fühlt sich im ersten Moment schlecht. «Vielleicht habe ich ihnen etwas unterstellt, das nicht stimmt», sagt sie.

Das Kleid zu kurz. Der Gang zu wenig selbstbewusst. Die Absätze zu hoch. Vielleicht betrunken, vom Leben und anderen Stoffen berauscht. Vielleicht auch nicht. Opfer sexueller Belästigung können es keinem recht machen. Vorwürfe haben auch Annick und Larissa nach ihren Erlebnissen zu hören bekommen. Die Prävention finde bloss auf Seit der Opfer statt, sagt Senn. «Das ist tief in der Gesellschaft verankert. Und das wollen wir so nicht mehr akzeptieren», sagt die 24-jährige Bucher.

Erzogen worden sind beide liberal. Ihre alleinerziehende Mutter sei ihr immer ein Vorbild gewesen sagt Bucher. Und doch ist es auch eine Generationenfrage. Ziel sei es, die eigene Meinung stets zu hinterfragen, sagt Senn. Denn: Sich von Vorurteilen loszulösen ist nicht einfach. Zum Treffen mit der bz erscheint Bucher in einem roten Sommerkleid. Noch einen Tag zuvor hat sie überlegt, ob es angebracht sei, sich in Zusammenhang mit diesem Thema so zu präsentieren. «Es ist in Ordnung, wenn man etwas nicht immer durchzieht», sagt Senn. Wichtig sei es, sich dessen bewusst zu sein. Dass die beiden Angriffsfläche bieten, wissen sie. «Wir sind gewappnet», sagt Bucher.

Leonie läuft durch die Hutgasse in Richtung Marktplatz. Alles ist gut beleuchtet. Doch: Die Seitengassen finde sie eher extrem, da sei so gar nichts los. «Jetzt bin ich allein. Es ist ganz anders, wenn der Markt nicht stattfindet. Einsam», sagt sie. Leonie läuft an der Treppe an einer Toilette vorbei. Sie habe selbst am Tag Angst, dass sie jemand packt und hineinzieht, sagt sie. Alles ist dunkel. Es ist ein Weg, den niemand gehen mag.

Auf die Problematik aufmerksam gemacht wurden Bucher und Senn durch ihr Umfeld. In diesem bewegen sich auch die fünf Frauen, so etwa Buchers Schwester Rebecca. Dies war eine bewusste Entscheidung. Es brauche Vertrauen, sagt Senn. Und: «Es hat sich für uns authentisch angefühlt, dort loszulegen, wo wir das Problem auch erkannt haben», sagt sie. «Es ist ein persönliches Thema. Nicht viele sind dazu bereit, ihre Gedanken und Ängste öffentlich zu machen», ergänzt Bucher.

Und doch: Raum soll es für alle geben. Noch aber fehlen weitere Stimmen, so etwa aus der LGBTQ-Community. Dass vorerst Frauen im Fokus stehen, ist dem Fakt geschuldet, dass diese von Catcalling (verbale Belästigung) am meisten betroffen sind, so Bucher. Gleichzeitig wollte man nicht aus Quotengründen nach Personen suchen. Noch steht nicht fest, in welche Richtung sich das Projekt entwickelt. Nach oben hin ist alles offen. Klar ist: Im Juli wird ein Kick-off-Event folgen, ab dann werden die Plakate hängen. Ziel soll es sein, am Ende mehr als eine Plattform zu sein. Aber: «Es soll auf keinen Fall ein kapitalistisches Projekt werden», so Senn.

Es sei ihr eigentlich wohler, einen ihr bekannten Weg abzuschreiten, sagt Ramaela, als durch das Matthäusquartier in Richtung Johanniterbrücke läuft. An der Hauptstrasse wird es besser. Viele Autos. Helligkeit. Alles super, sagt sie. «Jetzt kommt schon der erste komische Typ», sagt sie. Corona hat vieles verändert. Die Stadt wurde ihr fremd. An der Bushaltestelle trifft Ramaela eine Wartende an. «Es ist angenehm, wenn eine Frau da ist», so Ramaela. Dann fühle sie sich sicherer.

Vor «Raum für alle» waren Bucher und Senn nicht befreundet. Heute beenden beide die angefangenen Sätze der anderen. Die zwei studieren Multimedia Production in Chur. Ursprünglich war das Ganze als Schulprojekt angedacht. Irgendwann nahm es von selbst Fahrt auf. Um die 250 Stunden hat das Duo seit Februar investiert.«Der Zeitaufwand ist absurd», sagt Senn. «Wenn man aber derart dahintersteht, dann geht man diesen Extraweg.»

Die Auseinandersetzung mit dem Thema hat vieles verändert. «Wir hatten oft Treffen, an denen wir uns selbst reflektiert haben», so Senn. Auf einmal stand die Frage nach der eigenen Sicherheit im Raum. Reaktionen auf brenzlige Situationen wurden hinterfragt. «Das war für mich befreiend», sagt Bucher. «Auch wenn es schwierig ist, so gibt es einem doch Kraft», so Senn.

Doch wie weiter? Einen Lösungsansatz für die Problematik sehen beide in der Kindheit. So werde Mädchen früh eingetrichtert, was alles zum Problem werden könnte, sagt Bucher. Es sei aber wichtiger, die Jungen zu sensibilisieren. Dabei gehe es nicht darum, irgendjemandem etwas zu verbieten, finden beide. Besser sei Feingefühl, nur schon die Diskussion an sich. Sicherheit gibt es ihnen, wenn Männer in der Dunkelheit die Strassenseite wechseln, statt hinter ihnen zu laufen. «Wichtig ist es, einander Raum zu geben», sagt Senn.

Eigentlich spaziert Soumaya gerne. Nur eben in der Dunkelheit. Dann nicht. Sie erzählt von einem Freund, der frühmorgens wie selbstverständlich den Rhein entlang lief. «Das hett mi rächt gnoh», sagt Soumaya. Sie befindet sich auf der Dreirosenbrücke. Spricht über ihre Bachelorarbeit, die sich mit Sexismus und sexualisierter Gewalt auseinandersetzt: «Ich merke, wie sehr wir uns daran gewohnt haben. Ich habe das immer als normal abgetan.»

Hinweis:

Die kursiven Passagen sind Auschnitte aus den Tondokumenten. Diese finden sich auf www.raumfueralle.ch

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