Gruselkabinett der Eitelkeiten

«Wenn diese Stadt ein Mensch wäre, würde ich nicht mit ihr schlafen», lautet der Spruch auf meiner Lieblingspostkarte. Zwischen grauem Beton und Hochhäusern, die das Tageslicht nur so verschlucken, muss ich wieder daran denken. Zürich, Lagerstrasse 10, Europaallee. Endlich hat die Schreckensgestalt Gentrifizierung eine offizielle Adresse. Der Schweiz erstes Selfie House steht hier.  Was ein historischer Moment. Bunt bemalte 170 Quadratmeter. Ein Gruselkabinett der Eitelkeiten.

«Für den Schaffenden gibt es keine Armut und keinen armen, gleichgültigen Ort», schrieb Rainer Maria Rilke einst. Hätte er doch nur die Europaallee gekannt. Vor diesen dreizehn extra für Selfies konzipierten Ecken gestanden.

Bild eins. Ein Pärchen sitzt auf einem Sessellift. Blaue Sitze, schwarze Kleider. Im Hintergrund klebt lieblos das Abbild der Stadt, mit der man am besten niemals schläft. Das Pärchen lacht, die Ecke findet für einmal Gefallen. Nach ihnen wird lange keiner mehr auf die Sitze steigen. Die abgeblätterte Farbe? Wenig Instagramm-tauglich. Seilbahnen? Irgendwie uncool. Rilke hätte beides gefallen.

«Und egal, wo ich hingeh‘, jeder will ein Selfie/ Alle komm’n zu dir immer nur, wenn das Cash fliesst.» Die Rapper Jamule und Kianush widmen dem Selfie einen ganzen Song. Zu viel der Ehre? Jeder kriegt das, was er verdient.

Bild zwei. Ein Stuhl, bezogen mit schwarzem Samt. Goldener Rand. Ein Thron wie gedacht für die Kinder, die mit ihren Begleitern durch die Ecke toben. Hier will jeder ein Selfie. Das Highlight? Definitiv die Papierscheine unter unseren Füssen. Immer wieder wirbeln sie durch die Luft. Das Blitzlicht durchschneidet den Geldsturm. Wir werden unter Scheinen begraben. Schwarz, Grün, Gold. Hier will niemand weg.

«Das Alltäglichste wird reizvoll, wenn man es nur vor den anderen geheimhält». Oscar Wilde schrieb in «Das Bildnis des Dorian Gray» einst über einen Narzissten, der von seiner Schönheit berauscht jegliche Moral hinter sich liess. Diesen Punkt haben wir längst erreicht. Wir haben nichts mehr zu verstecken, keine Geheimnisse. Aber viele Zweifel.

Bild drei. Knallbunte Blumen. Sattes Grün. Dazwischen ein Plastikflamingo. Etwas deplatziert. Eine Frau mit Gucci-Gürtel fotografiert ihre Begleiterin. Gelacht wird selten, zu wichtig ist die Mission. Die Gesichter verziehen sich, wenn die geschossenen Fotos betrachtet werden. Es verstreicht eine halbe Ewigkeit, bis beide weiterziehen. An diesem Platz gibt es keine Zufriedenheit. Nur Unsicherheit.

«Be a goofball. Pose with your favorite people. Selfies aren’t a science; they’re an art.» In einem Artikel der «People» werden die besten Selfietipps von Kim Kardashian abgehandelt. Von perfektem Licht bis zum sorgfältig gewählten Filter. Ein gutes Selfie ist harte Arbeit.

Bild vier. Eine Mutter und ihre zwei Töchter warten ungeduldig. Endlich dürfen sie sich in das Bällebad stürzen. Zack, schon fliegen die grauen Kugeln durch die Luft. Das Lachen der Mädchen halt durch den Raum. Kim Kardashian interessiert hier niemanden. Scheiss auf Filter, das hier ist echt. Die Bälle kullern aus dem Becken. Hier wird gelebt. Perfekt unperfekt.

Irgendwo zwischen Engelsflügeln und Trampolin setzt der Spass ein. Wer sind wir denn zu richten? «But first, let me take a selfie.» Die Welt können wir später retten. Coronavirus, Hanau, Donald Trump, alles weit weg. Es gibt nur noch Schaukeln und Geldscheine aus Papier. Die Frisur sitzt nicht mehr, das Make-Up hat sich verabschiedet. Was bleibt ist das Strahlen in den Augen. Für immer und ewig zwischen Beton und Hochhäusern festgehalten.

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