Wie ein schlafender Vulkan

Text: Larissa Gassmann, bz Basel, 24. April 2019

Jessica Ventura spielt erst seit kurzem für Sm’Aesch Pfeffingen, trotzdem fühlt sich die Spielerin in der Schweiz äusserst wohl. Dennoch wird die Brasilianerin ab und an von Heimweh geplagt. Die beste Medizin dagegen? Der angestrebte Meistertitel mit Sm’Aesch.

Wer zum ersten Mal den Dorfkern von Aesch betritt, den beschleicht sofort ein befremdliches Gefühl. Noch von der Hektik des Basler Bahnhofs befangen, wirkt der Ort gerade so, als wäre er aus der Zeit gefallen. Ein wenig zu malerisch, ein wenig zu dörflich. Aber: alles in allem ein Platz, der zum Verweilen einlädt, wo man gerne bleibt.

So oder ähnlich muss es auch Jessica Ventura bei ihrem ersten Besuch ergangen sein. Die 27-jährige Volleyballspielerin kam im letzten Sommer nach Aesch und wurde direkt ins kalte Wasser geworfen.

Aufgewachsen im grossen und bunten Brasilien, wurde sie über das laute Italien in das idyllische und ruhige Baselbieter Dorf versetzt. Startschwierigkeiten? Kulturschock? Fehlanzeige. Dafür hat die weit gereiste Spielerin schon zu viel erlebt.

Rasante Karriere

Begonnen hat die Karriere von Jessica Ventura im Alter von zwölf Jahren. Dass sie sich für diesen Sport entschieden hat, ist wenig erstaunlich. Volleyball ist nach Fussball die beliebteste Sportart in Brasilien. Durch ihre volleyballbegeisterte Mutter wird die kleine Jessica an die Sportart herangeführt.

Schnell fällt sie durch ihr Talent auf. Mit 17 Jahren darf sie zum ersten Mal im Nachwuchsteam der brasilianischen Nationalmannschaft spielen. An ihr Debüt in der brasilianischen Superliga erinnert sie sich noch genau: «Vor dem Spiel wurde mir erzählt, dass sehr viele Zuschauer anwesend sein werden. Das konnte ich gar nicht glauben. Bis wir dann die Halle betreten haben. Vor uns standen 7000 Menschen, meine Knie haben nur noch geschlottert.»

Verarbeitet wurde dieser kleine Schocker schnell. Bald läuft sie für die ganz grossen Teams auf, darf mit ihren Vereinen Maranhão Volei und Minas Tênis Club ganz Brasilien bereisen. Doch Jessica Ventura will mehr. In der reisefreudigen Spielerin keimt bald der Wunsch nach neuen Erfahrungen auf.ADVERTISING

Die Schweiz lockt

Mit 25 Jahren packt sie schlussendlich alle ihre Koffer zusammen, zieht nach Italien und spielt dort für Pallavolo Cisterna 88 und Pallavolo Marsala. Bereut hat sie diesen drastischen Schritt nie, in Italien hat sie sich schnell eingelebt.

Bis dann nach zwei Jahren die schweizerische Liga lockt. Und die Aussicht, mit dem gut aufgestellten Team Sm’Aesch Pfeffingen einen Titel gewinnen zu können. Die Schweiz ist für sie ein gänzlich unbekanntes Land.

Doch sie weiss: Die heimische Liga kann mit einigen starken Teams aufwarten. Mehrmals schon haben schweizerische Teams international für Furore gesorgt. Wieder entscheidet sie sich also für einen drastischen Wechsel. Und erneut stellt sich ihre Entscheidung am Schluss als richtig heraus.

Introvertierte Leaderfigur

Der Verein aus dem Baselbiet hat es ihr angetan, die Umgebung sowieso. Einzig eine mittlerweile auskurierte Schulterverletzung und ihre Introvertiertheit stehen ihr anfänglich im Weg. Ventura, die im Team von Sm’Aesch die älteste und erfahrenste Spielerin ist, weiss mit ihren athletischen Fähigkeiten zu überzeugen.

Verpflichtet wurde sie aber aus einem ganz anderen Grund. Als erfahrene Spielerin soll sie das Team als Leaderfigur stärken. Die jüngeren Spielerinnen motivieren, antreiben. Schüchternheit ist in solch einer Rolle fehl am Platz.

Sich damit abzufinden, fällt ihr am Anfang alles andere als leicht. Doch mittlerweile ist ihr Trainer Andreas Vollmer äusserst zufrieden mit ihrem Auftreten. Auch, weil sie endlich genug Mut gefunden hat, sich unbefangener auf Englisch auszudrücken.

Untypische Brasilianerin

Jessica Ventura beschreibt sich selbst als «powerful». Fragt man ihren Trainer, so ist sie aber noch mehr als bloss stark. Diszipliniert sei sie, anpassungsfähig. Keine typische Brasilianerin, eher ein schlafender Vulkan. Ventura gliedert sich perfekt in die neue Umgebung ein, adaptiert den europäischen Stil mit Leichtigkeit.

Obwohl sie bis jetzt nur simple Dinge wie «Danke» und «Gute Morge» auf Schweizerdeutsch sagen kann, verbringt sie ihre Freizeit zum grössten Teil nur mit Einheimischen. Was sie an der Schweiz besonders überrascht hat? «Hier ist alles sehr organisiert und strukturiert. Auch die Volleyballvereine. In Brasilien ist das leider nicht so.»

Angetan haben es ihr auch die schweizerischen Städte wie das nahe Basel mit seiner kulturellen Szene oder Luzern. Ihr Lieblingsort? Der Blausee. Sprachlich schlägt sie sich momentan vor allem auf Englisch durch, Deutsch möchte sie bald lernen. Ihre Muttersprache, Portugiesisch, kommt eher weniger zum Zug.

«Meine Karriere treibt mich von meiner Familie weg.»

Nur manchmal, da geht sie in Basel in ein brasilianisches Restaurant. Wenn das Heimweh sie befällt, sie das gute Essen aus der Heimat vermisst – und so einiges mehr. Obwohl ihre Eltern wahnsinnig stolz auf sie sind und jedes Spiel gebannt verfolgen – so weit weg von zu Hause zu sein, bringt viele Nachteile mit sich.

Auf ihre Familie angesprochen, wird die zurückhaltende Brasilianerin prompt emotional: «Alle akzeptieren es, dass ich nun einmal diesen Job ausgewählt habe und hier sein will. Aber es ist trotzdem nicht einfach. Ich verpasse all die schönen familiären Ereignisse, die sich in Brasilien abspielen. Meine Karriere bedeutet mir zwar viel, aber sie treibt mich zugleich von meiner Familie weg.»

Von Heimweh geplagt, nach Niederlagen an sich zweifelnd. Da braucht es irgendwo Halt. Den findet Jessica Ventura in ihrer Mannschaft, der «Sm’Aesch-Familie». Die vielen Trainings – «es sind mehr als damals in Italien» – schweissen das Team zusammen.

Zusammen gegen das Heimweh

Die Spielerinnen supporten einander enorm, sind immer für sie da. Auch nach den bitteren Niederlagen in den letzten beiden Finalspielen gegen Neuchâtel, in denen sie laut eigener Aussage nicht immer eine optimale Leistung abgeliefert hat. Doch nicht nur die Spielerinnen selbst, auch die Fans gehören zur Familie.

Als Jessica Ventura gefragt wird, was sie unbedingt noch erzählen möchte, zückt sie ihr Smartphone, um das Wort «espectadores» zu übersetzen. Zuschauer. «Aesch ist sehr klein. Trotzdem haben wir treue Zuschauer, die uns immer unterstützen, die jede einzelne Spielerin kennen. Das bedeutet mir sehr viel.»

Durch die Niederlage am Ostermontag muss Sm’Aesch heute in Neuchâtel gewinnen. Dann käme es am Freitag in der Löhrenackerhalle zum Entscheidungsspiel um die Schweizer Meisterschaft. Im heimischen Stadion, im Beisein der grossen Familie. Im kleinen, aber feinen Aesch.

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