«Es fühlt sich an wie eine Neueröffnung»

Text: Larissa Gassmann, Bild: Britta Gut, Badener Tagblatt, 12. Mai 2020

Seit neun Uhr dürfen im Spreitenbacher Shoppi Tivoli wieder alle Geschäfte ihre Waren verkaufen. Dies sorgt für einen grossen Besucherandrang. Das Ende des Lockdown versetzt das kaufende Volk und das Verkaufspersonal gleichermassen in Hochstimmung.

Vor dem Shoppi Tivoli herrscht am Montagmorgen um halb zehn Uhr fast schon eine gespenstige Stille. Nur ein paar vereinzelte Autos stehen vor dem Spreitenbacher Einkaufscenter, noch weniger Menschen entsteigen dem gerade eben eingetroffenen Bus. Im ersten Moment scheint es, als hätte die Masse die Lockdown-Öffnung verschlafen. Kaum ist der Shopping-Tempel aber betreten, strömen einem die schon zuvor eingetroffenen Besucherinnen und Besucher entgegen. Weniger als zehn Prozent der Läden im Spreitenbacher Shoppingcenter waren in den letzten Wochen offen, es wirkt fast schon so, als wolle die Besucherschar nun alles auf einmal aufholen.

Centerleiter Patrick Stäuble ist mit dem Start alles andere als unzufrieden. Er hofft fest darauf, dass es in dieser Form weitergeht. «Ich wünsche mir mehr Switzerland First. Dass die Kunden jetzt den Schweizer Detailhandel unterstützen und in der Schweiz einkaufen», sagt er.  Einen so guten ersten Tag habe er wahrlich nicht erwartet: «Es fühlt sich an wie eine Neueröffnung. Was ich gesehen habe, ist sehr gut für einen Montag.» Guter Dinge ist auch Zahida Baker, Verkäuferin bei Fashion Stylers. Weil bis jetzt allerdings nur eine Kundin vor Ort war, vertreibt sich die 33-Jährige die Zeit mit Putzarbeiten. «Wir haben damit gerechnet, dass bei uns am Morgen noch nicht viel los sein wird», sagt sie. Eine Kollegin, welche im einen Stockwerk tiefer liegenden Migros arbeitet, habe sie aber vorgewarnt, dass der grosse Ansturm meist erst ab 17 Uhr starte. Bereit dafür ist die junge Frau allemal.

Mit klingenden Kassen, vollen Einkaufstüten und energisch vor sich her geschobenen Wägen erobern sich die Menschen eine Plattform tiefer derweil jetzt schon ein Stück Normalität zurück. Alles ist auf den ersten Blick wie immer – und auf den zweiten doch alles andere als gewohnt. Kleinere Menschengruppen stehen zusammen, Kinder rennen durch die Gänge, Frauen stöbern durch Geschäfte mit Dekoartikeln. Es entstehen vertraute Bilder. Und dann doch wieder Unbehagen. Wenn die Aufmerksamkeit auf die zahlreichen Menschen mit Masken fällt. Die Frau mit der Sauerstoffbrille. Die vielen Hinweisschilder, die es zu beachten gilt. Noch ist alles ein bisschen ungewohnt. Dazu gehört auch der zarte Hauch von Desinfektionsmittel, der durch die Gänge wabert.

Prall gefüllte Einkaufstaschen – und viele Zweifel

Bereit für die neue Realität sind nicht alle Geschäfte. Noch haben nicht alle Cafés und Restaurants geöffnet. An vereinzelten Glasscheiben klebt noch immer ein «Wegen Corona vorübergehenden geschlossen»-Schild. Die zugänglichen Cafés sind nur mässig gut besucht. Einen ähnlichen Besucherandrang wie Anfang März und das Lachen von pausierenden Jugendlichen vermisst man hier schmerzlich.

Wer eine Maske trägt, der redet nicht gerne über die Lage der Welt. Auskunftsfreudiger sind die Menschen ohne Schutz. Dazu gehört beispielsweise eine 46-jährige Mutter aus Dietikon. Mit ihrer kleinen Tochter im Einkaufswagen ist sie heute im Tivoli unterwegs. In ihrem Wagen ist bis jetzt gelandet, «was man eben so braucht». Dazu gehören nebst Medikamenten auch Sommerkleider für ihr kleines Kind. Besonders geschützt hat sie sich heute nicht, Angst verspürt sie keine. Das mit Corona sei schliesslich bloss ein Medienhype, sagt sie.

Auch zwei junge Frauen, beide mit mehreren prallvollen Einkaufstaschen beladen, glauben nicht so wirklich an das Coronavirus. Für sie steht die Freude über die Lockdown-Öffnung im Vordergrund. Weil sie zum ersten Mal seit Langem wieder Kleider shoppen können, haben beide ordentlich zugeschlagen. Onlineshopping war für die beiden keine Option. «Mit dem Onlineshopping habe ich erst gar nicht angefangen. Ich will die Sachen sehen, die verschiedenen Stoffe anfassen können», sagt die 27-Jährige aus Niedergösgen. Ihre 30-Jährige Kollegin ist ähnlicher Meinung. «Das Ganze ist viel zu mühsam, man muss die Pakete zurückschicken und sich um alles kümmern», sagt sie. Obschon die beiden zu den Corona-Skeptikerinnen gehören, halten sie sich an die Hygienemassnahmen.

Diese fallen in jedem Geschäft ein bisschen anders aus. Mancherorts wird zum Abstand halten aufgerufen, bei anderen Geschäften müssen kleine Nummerntäfelchen beim Betreten der Ladenfläche mitgenommen werden. In einigen Geschäften sind nur zwei, in anderen wiederum über zwanzig Kundinnen und Kunden erlaubt. Auseinandergeschobene Bänke und Personenbegrenzungen in den Liften sollen unnötige Kontakte vermeiden.

Masken trägt vor allem das kaufende Volk

Dies ist ganz im Sinne von Beat Tiefenbrunner. Der 71-Jährige aus Winigen mahnt zur Vorsicht. Vor Ort ist er heute quasi nur notfallmässig. «Ich habe mir gerade eben einen neuen Computer zugelegt. Weil ich mit dem Touchpad nicht gut umgehen kann, werde ich mir heute im Elektrogeschäft eine Maus kaufen», sagt er. Ansonsten meide er aber jeglichen Kontakt. Er verstehe die Leute nicht, die ständig rausgehen. «Wir müssen eine zweite Welle unbedingt verhindern», sagt der Rentner.

Eine Maske tragen will Tiefenbrunner dann aber doch nicht. Ähnlich wie er halten dies viele Verkäuferinnen und Verkäufer. Einen Schutz trägt vor allem das kaufende Volk, nur in den Beautygeschäften und Frisuersalons sieht es etwas anders aus. Eine Ausnahme bildet auch die Snipes-Filiale. Das Schuh- und Kleidergeschäft hat sein Personal mit eigens produzierten und mit dem Geschäftslogo versehenen Masken ausgestattet. So wirkt der 29-Jährige Verkäufer Serkan Selek mit seinen silbernen Haaren und der extravaganten Maske fast wie eine Figur aus einem Dystopieroman. Das Geschäft wird von den jungen Kundinnen und Kunden dann auch regelrecht belagert. Weil nur vier Kunden zugelassen sind, muss Selek die Jugendlichen immer wieder vertrösten. Nicht nur das gut laufende Geschäft sorgt beim jungen Mann für gute Laune. «Ich bin total froh, dass ich wieder vor Ort sein kann», sagt er. «Irgendwann ist mir zu Hause fast schon die Decke auf den Kopf gefallen.»

Dass bei allen Ladenbesitzern, sowie auch dem Verkaufspersonal seit Tagen vor allem Vorfreude herrschte, hat auch Patrick Stäuble wahrgenommen. «Man hat in dieser Zeit gemerkt, wie bedeutsam ein guter Arbeitsplatz ist. Ich hoffe, dass diese Freude nun weitergegeben wird und auf alle überschwappt», sagt er. Trotzdem rechnet der Centerleiter nicht mit einem Besucheraufkommen wie vor der Coronakrise. An einem normalen Wochentag versammeln sich zwischen 10 000 und 12 000 Menschen im Shoppi Tivoli, an den Samstagen gar zwischen 25 000 und 28 0000. «Wenn wir 80 Prozent der Besucher eines normalen Montages hätten, wäre das schön», sagt er. «Aber die Menschen kommen vorbei, und das ist ein Schritt zurück in Richtung Normalität.»

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