Rüffel für das Aargauer Obergericht

Text: Larissa Gassmann, Sandra Meier, Aargauer Zeitung, 11. Juni 2020

Das Bundesgericht rügt das Aargauer Obergericht im Fall eines Gewaltverbrechers. Die höchste Instanz im Aargau sei nicht befugt gewesen, ein Urteil zu fällen.

Der Weg, der hinter Dennis* liegt, ist ein langer: Über vier Jahre hinweg stand der 41-Jährige im Zwist mit den richterlichen Instanzen. Lang ist auch die Liste der durch ihn verübten Delikte. Versuchter Mord, qualifizierter Raub, Diebstahl, Drohung, mehrfache Sachbeschädigung und Beschimpfung führten ihn 2016 vor das Bezirksgericht Baden. Gestützt auf einen gemeinsam ausgeheckten Tatplan soll Dennis zusammen mit zwei Komplizen in einer Nacht im Juni 2014 einen Raubüberfall auf Noa verübt haben.

Nachdem sich das Trio gewaltsam Zugang zur Wohnung des Opfers verschafft hatte, soll Dennis auf der Suche nach Drogen dem auf dem Sofa liegenden Noa mindestens zwei Stromstösse mit einem Elektroschockgerät versetzt haben. Es entbrannte ein heftiger Kampf. Noa erlitt mehrere Stichverletzungen am Oberkörper. Die Wunden waren derart tief, dass sie sofort operativ versorgt werden mussten.

Das Badener Bezirksgericht erklärte Dennis des Raubes, der Drohung, der Sachbeschädigung sowie der Beschimpfung schuldig und verurteilte ihn zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe sowie einer Geldstrafe. Hinzu kamen Schadenersatz sowie Genugtuung in der Höhe von 10’000 Franken für Noa. Auch Dennis‘ Komplizen kassierten mehrjährige Freiheitsstrafen. Von der Anklage des versuchten Mordes und des Diebstahls sprach das Gericht Dennis allerdings frei. 

Erst Urteil zurückgewiesen und dann doch nicht

Eigentlich hätte die Geschichte an diesem Punkt enden können. Doch es sollte erst der Anfang sein. Sowohl der Verurteilte wie auch die Staatsanwaltschaft erhoben gegen das Urteil Berufung. Auch die beiden Mittäter zogen das Urteil weiter. Das Aargauer Obergericht ging allerdings nicht darauf ein. Ohne Vorankündigung hob es die erstinstanzlichen Urteile auf und wies den Fall zur Neubeurteilung zurück an das Bezirksgericht Baden.

Dies führte dazu, dass Dennis‘ Komplizen ihre Berufungen zurückzogen. Aufgrund dessen entschied sich der Verfahrensleiter des Obergerichts wiederum um: Der Fall sollte nun doch nicht zurück ans Bezirksgericht. Der Staatsanwaltschaft erteilte er zudem die Möglichkeit, die Anklage um versuchten Mordes und qualifizierten Raubs zu ergänzen – was diese auch tat. 

Nachdem eine Berufungsverhandlung mit Einvernahmen des Beschuldigten und auch des Opfers durchgeführt wurde, sprach das Obergericht Dennis im Dezember 2019 des versuchten Mordes, des Raubes sowie der Beschimpfung schuldig. Die zuvor auf sechseinhalb Jahre angesetzte Freiheitsstrafe wurde verdoppelt, hinzu kam eine unbedingte Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu 10 Franken. Dennis reichte erneut Beschwerde ein. Vor Bundesgericht forderte er, dass das Urteil aufgehoben und zur Neubeurteilung zurück an die Vorinstanz gewiesen werde.

Rüffel für Obergericht

Mit Erfolg. Das Bundesgericht heisst Dennis‘ Beschwerde gut und erklärt das Urteil des Obergerichts als nichtig. Das Problem: Das Aargauer Obergericht hatte den Fall bereits ans Bezirksgericht zurückdelegiert. Damit war es nicht mehr zuständig und hätte auch kein Urteil mehr fällen dürfen. «Solange die erste Instanz kein Urteil gefällt hat bzw. gegen ein solches keine Berufung angemeldet worden ist, kommt dem Obergericht keine Verfahrensleitung zu», schreibt das Bundesgericht. Der Kanton Aargau muss Dennis‘ Anwalt eine Entschädigung von 3000 Franken zahlen.

Nach über vier Jahren geht der Fall nun wieder an das Bezirksgericht Baden zurück. Dieses muss noch einmal ein Urteil über Dennis fällen. Und auch damit könnte die Geschichte noch nicht zu einem Ende finden. Denn der Beschuldigte hat die Möglichkeit, auch dieses Urteil weiterzuziehen. Bis vor Bundesgericht.

*Alle Namen geändert

Bundesgerichtsurteil vom 20. Mai 2020: 6B_165/2020  

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