Weihnachten beginnt im August

Text und Bild: Larissa Gassmann, Badener Tagblatt, 11. Dezember 2020

Kurz vor Weihnachten befindet sich die Marein AG in Spreitenbach mitten in der Hauptsaison. Hunderte von Pakete verlassen das Bastellager pro Tag. Ein Augenschein vor Ort.

Eigentlich hätte sie gerne sechs oder immerhin vier Arme, sagt Sherine Baur. Die zierliche Blondine ist hinter ihrem Pult kaum mehr zu sehen, zentimeterdicke Stapel an Aufträgen verdecken die Sicht. Fast im Minutentakt ploppen auf ihrem Computerbildschirm virtuelle Briefumschläge auf, um eingegangene Bestellungen anzukündigen. Schon im Frühling konnte sich im Bastellager der Marein AG keiner über Arbeitsmangel beklagen. Kurz vor Weihnachten hat sich die Nachfrage nun gar verfünffacht. Von meterhohen Regalen umgeben, springt Baur mit flinken Fingern von einem Bestelleingang zum nächsten.

Weil das Bastelfieber dank Corona grösser denn je ist, will jeder ein Stückchen vom Kuchen. Am besten lieber heute als morgen. Bis 14 Uhr bestellt, morgen geliefert. Die Zeit sitzt allen im Nacken. Ab Oktober tätigen die Fachgeschäfte ihre Anfragen, im September dann die Grossverteiler, bis im November die Privatkunden den Onlineshop stürmen. «Bei mir fängt Weihnachten schon im August, ein Jahr früher an», sagt der Geschäftsführer William Reinecke.

Bereits am frühen Morgen hat er einen Video-Call nach China hinter sich. Normalerweise wäre er selbst in den Fernen Osten gereist, hätte Messen besucht, in den hippen Städten Europas nach neuen Trends gesucht. «Aber von Hundert auf Null lief nichts mehr», sagt er. Drei Monate verbringt er sonst im Ausland. Es sei jetzt dringend, dass er bald wieder nach China könne, sagt Reinecke. Doch Corona zwingt ihn weiter an den Bürotisch.

Styropor, Glitzerstifte, Wackelaugen

Was bleibt, sind Apps wie Instagram oder Pinterest und Videotelefonate. An Trendmeetings wird besprochen, was in den sozialen Medien gerade angesagt ist und was im kommenden Jahr in der Kreativwelt «In» sein soll. Er schlage kaum einen Vorschlag seiner Mitarbeiter ab, sagt Reinecke. «So geben sich die Leute gleich doppelt Mühe.» Und überhaupt: Er umgebe sich gerne mit Menschen, die auf Innovation setzen und sich gerne verwirklichen. Unermüdlich werden so immer wieder neue Ideen vorgestellt. Rund 7000 Produkte fasst der Onlineshop. Immer weiter wächst das Lager.

Mit den frisch ausgedruckten Bestellzetteln in der Hand ziehen derweil zwei junge Lagermitarbeiterinnen von Regal zu Regal. Immer weiter pflügen sie mit ihren aufeinandergestapelten Boxen durch die Gänge. Aus den Kartonschachteln in den Regalen quellen unzählige Bastelprodukte. Knallbunte Federn, Styropor in allen Formen und Grössen, Glitzerstifte und Wackelaugen durchbrechen das triste Braun der Kartons. Mit gezielten Griffen füllen die zwei Frauen ihre rollbaren Boxen nach und nach auf.

Je mehr man in das Labyrinth aus Regalen und verschiedenen Stockwerken vordringt, desto mehr droht man sich auf den 9000 Quadratmetern zu verlieren. «Das geht allen so am Anfang», lautet es unisono. Irgendwo am Ende des Irrgartens tauchen die hellen Büroräumlichkeiten der Marketingabteilung auf. Das Braun der Kartonschachteln wird abgelöst durch jede erdenkliche Farbe des Regenbogens. Alles ist bunt. Die Wasserflaschen auf den Tischen, die Karten an den Wänden. Alles ist hipp. Wer am Pult sitzt, der muss der Zeit voraus sein. Während die Weihnachtsprodukte nach und nach das Lager verlassen, wird hier die kommende Weihnachtssaison vorbereitet. Am besten lieber heute als morgen.

Wichteltüren sind derzeit besonders gefragt

Einst als KV-Lehrling eingestellt, ist der 29-jährige David Dick heute Marketingleiter. Im Fotostudio neben seinem Büro stapelt sich das Kamerazubehör. Jedes einzelne Produkt aus dem «I am creative»-Onlineshop wird hier in Szene gesetzt. Den Umgang mit der Spiegelreflexkamera, das Arbeiten mit Photoshop und InDesign, all das habe er sich selbst beigebracht, sagt Dick.

Drei bis fünf Monate dauert es, bis ein Produkt vom Einkauf in den Onlineshop gelangt. Besonders gefragt sind derzeit Grosspackungen, mit denen sich für Gotte und Götti Weihnachtsgeschenke basteln lassen. Ein Renner sind die Wichteltüren, die man an die Fussbodenleiste im Kinderzimmer kleben kann. Dazu gibt es Zubehör, kleinste Stühlchen und Figürchen. «Ein bisschen waren wir damals der Zeit voraus», sagt Dick. Der Trend schwappte langsamer als erwartet von Skandinavien aus nach Europa. Vielleicht doch lieber morgen als heute? Lieber nicht. Nur so brummt das Geschäft.

Bis in Richtung Büro sind die Rufe der Logistiker zu hören, die im Lager an der Packstation zugange sind. In bunte Shirts gekleidet, verpacken die jungen Männer dort die aus dem Lager zusammengesuchten Produkte. Kartons werden durch die Luft gewirbelt, abgesetzt, befüllt und dann – ratsch – mit Klebeband versiegelt. Bereits am frühen Morgen ist die Schlange vor dem Paketwagen meterlang. Am Ende des Tages werden Hunderte Pakete das Lager des schweizweit grössten Bastelshops verlassen.

«Das nimmt in der heutigen Zeit zu»

«Du musst stets irgendetwas Neues bringen, das nimmt in der heutigen Zeit immer mehr zu», sagt Reinecke. Nebst dem Bastelshop «I am creative» gehört zur «Marein AG» mittlerweile auch «Esmée», eine Wohn- und Dekolinie. Dazu Yadea, eine Firma mit E-Scootern, Kaex, ein Arzneimittel für Kater-Kopfschmerzen und May International mit «Hipster-Velos», wie Reinecke sie scherzhaft nennt. Dabei sieht der 36-Jährige mit seinen langen Haaren, den Turnschuhen und dem grauen Pullover selbst ein bisschen wie einer aus.

Seit er die 1979 von seinem Vater gegründete Firma übernahm, hat sich einiges getan. Wurden früher nur die Produkte des deutschen Bastelherstellers Rayher vertrieben, so hat sich William Reinecke dazu entschieden, die Ware selbst zu sourcen und auf den Markt zu bringen, die Grosshändler direkt zu beliefern und dabei immer stärker auf den Onlinehandel zu setzen. Die Zusammenarbeit mit Influencer wie Rafael Beutl, «Kids-Tipps» und «Mamas Unplugged» sorgen für noch mehr Reichweite.

Immer mehr Leute wuseln mit der voranschreitenden Zeit durch das Lager. Weil seit dem Shutdown stets nach mehr Bastelprodukten verlangt wurde, musste Reinecke gleich sechs neue Lagermitarbeiter anstellen. Stets geht die Suche nach dem Bastelmaterial von vorne los. Es fehlen noch Farbtuben und Pinsel. Irgendwo sollten Kleber und Stifte sein. Erbarmungslos spuckt der Drucker neben Sherine neue Aufträge aus. Ein schneller Blick auf die Uhr. Endlich: 14 Uhr. Bestellt, morgen geliefert.

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